Herbstlaub raschelt. Oder ist es das ausladende, apricotfarbene Seidenkleid der Dame mit der eng geschnürten Taille und der hoch aufragenden Frisur? Ein galanter Herr im taubenblauen Justaucorps aus Brokat samt Zylinder, Kniehose, Stehkragen und zweireihiger Weste, in dessen breitem Rockrevers ein Einstecktuch leuchtet, begleitet sie. Sie gehen entlang eines leise plätschernden Baches, über kleine Holzstege und eiserne Brücken mit kunstvoll geschmiedeten Geländern. Beide halten große, krugartige Trinktassen in ihren Händen. Ihr Weg führt sie ins villengleiche, weiß gestrichene Badehaus. Mit ihnen eilen weitere fein gekleidete Herr- und Damenschaften in den großen Saal des Gebäudes.
Bekannt bis nach Berlin
Prominente Gesichter sind darunter, die Antlitze würdevoller Amtsmänner, honoriger Banker und einflussreicher Lokalpolitiker. Sie alle eint ein Ziel: Ihre Becher oder Tassen zu befüllen, um sie danach in konzentrierten Schlucken bis zur Neige zu leeren.
Denn schließlich ist die pure Gesundheit darin. Sie strömt aus einem mit Putten verzierten Brunnen in der Mitte des Saales. In ganz Schwedisch-Vorpommern hat sich die Heilkraft dieser Quelle herumgesprochen. Bis nach Berlin ist der Ruf der Sagarder Brunnen-, Bade- und Vergnügungsanstalt gedrungen, die seit ihrer Eröffnung anno 1774 immer mehr Gäste begrüßt. Auch Geistesgrößen wie der Philosoph Friedrich Schleiermacher oder der preußische Gelehrte Wilhelm von Humboldt trinken aus den kalk- und eisenhaltigen Bornen. Der Dichter Heinrich von Kleist findet ein wenig Linderung von diversen Leiden. Ließ er hier einen Becher fallen, kam ihm an einem Sagarder Brunnen die Idee zu seinem Lustspiel „Der zerbrochene Krug“?
Das muss die Gegend machen: Sie lässt die Phantasie sprudeln wie die Quellen aus dem Boden des weitläufigen Parks. Alle zusammen ließen das unbedeutende Sagard zu dem allseits beliebten Kurbad werden. Dem ersten auf Rügen.
Pioniere der Blütezeit
Zwei Namen sind mit dem Aufstieg des eher meerfernen Flecken im Norden der Insel verbunden: Heinrich Christoph von Willich und Dr. Moritz von Willich. Sagarder Pastor der eine, der andere Arzt in der Inselhauptstadt Bergen. Der Unternehmergeist der Stiefbrüder lässt Sagard nicht nur sprichwörtlich erblühen. Aus der Pfarrkoppel wird ein Landschaftspark, neue Wege führen zu Pavillons, Lauben und schattenreichen Ruheplätzen. Vor allem aber zu den Quellen, deren mineralreiche Inhaltsstoffe bald in vieler Munde sind.
Die Brüder Willich sind ein eingespieltes Team: Der Pastor sorgt für potente Geldgeber, die laut einem Zeitgenossen, neben den größeren Bauten auch „Ergötzlichkeiten anderer Art“ finanzieren, etwa „Karussells, Kegelbahn, Spieltische, Schaukel, Wippen“. Der Arzt hingegen gibt mit seinem Ansehen als „Landphysikus für Vorpommern“ die medizinische Gewähr für das heilkräftige Wasser. Eingeschlossen darin sind begleitende Therapien vom Sturzbad – einer Art kalter Dusche – bis zur nervenstärkenden „Promenade in der Brunnenaue“.
Der Arzt Willich führt ein striktes Regiment: Eine „Trinkkur“ beginnt bereits früh am Morgen, lange vor dem Frühstück. Die Spaziergänge dehnen sich oft bis an die Küste aus. Und noch spät am Abend versammelt man sich zu Gesprächsrunden, in denen die gesundheitlichen Fortschritte erörtert werden. Die Ausflüge führen übrigens oft genug weit ins Hinterland oder hoch zu Ross bis an die Küste. Die landschaftlichen Schönheiten Rügen waren offenbar schon damals Teil des wundertätigen Rezeptes mit Namen „Rügen“.
Vergessenes Kurbad Sagard
Leider war dem Kurbad Sagard nur eine kurze Hoch-Zeit beschieden. Durch die französische Besatzung kurz nach Beginn des 19. Jahrhunderts blieben die Besucher aus, der Kurbetrieb in Sagard endete. Und er fand auch nicht zu alter Größe, als ein Pächter 1818 einen Versuch der Wiederbelebung wagte. Das mag auch an der wachsenden Attraktivität der Orte am unmittelbaren Ostseeufer gelegen haben. Die späteren Ostseebäder Binz, Sellin, Göhren, auch das nahe Lohme ließen Sagard in Vergessenheit geraten. Bereits kurz nach dem Tod von Pastor Willich (er starb 1827), waren die aufwändig eingefassten Brunnen zerstört, kaum noch aufzufinden.
Doch immer noch sprudeln die Quellen. Noch immer ist ein Spaziergang durch die Sagarder Brunnenaue entlang des plätschernden Baches und über restaurierte Stege und Brücken ein Erlebnis. Still! Ist es ein Seidenkleid, das da übers Herbstlaub raschelt?
Ach, es ist nur eine Amsel im schwarzen Federkleid, die nach Würmern sucht. Sie hält ihren Schnabel unter eins der Rohre, aus denen das Heilwasser fließt. Ein später Kurgast der Gegenwart.
Schnabel unter eins der Rohre, aus denen das Heilwasser fließt. Ein später Kurgast der Gegenwart.
Rügen hat noch weitere Heilkräfte. Erfahre hier mehr.
Kommentare sind geschlossen.