Wenn eine Krause Glucke ein Hexenei ausbrütet, kommt dann ein Erdstern heraus? Am Ende dieses Artikels werden Sie es wissen.
Im Wald, da sind die Räuber. Genauer gesagt, die Pilzräuber. Noch genauer: Eine Gruppe von Urlaubern und Einheimischen, die sich der Führung von Eckhard Berger anvertrauen, um reichlich Beute zu machen. Wie es sich für Räuber gehört, haben sie Messer dabei. Die Kundigeren unter uns haben sogar echte Pilzmesser mit gebogener Klinge und einem Pinsel am Griff, mit dem sie Staub und Schmutz abstreifen können. Außerdem tragen sie einen Korb statt einer Plastiktüte, denn der Erfahrene weiß: In einer Plastiktüte werden die Pilze zu Matsch.
Eckhard Berger ist Naturführer beim Naturerbe Zentrum Prora.
Heute ist er mal „ausgeborgt“, um im Rahmen des Binzer Wanderherbstes seine Kunst zu zeigen. Die besteht darin, über ein immenses Pilzwissen zu verfügen, er habe einen „Pilzkopf“, wie Berger lächelnd meint. Doch hat er auch die richtige Pilznase?
„Na ja“, dämpft er unsere Erwartungen, „der Sommer war zu trocken. Jetzt hat es zwar doll geregnet, aber es ist zu kalt.“ So ein richtiges Pilzjahr wie vor drei Jahren, als an manchen Stellen die Pilze praktisch in Reihe standen und salutierten, so ein Jahr wird es wohl nicht. Einige in der Gruppe gucken trübe. Wir ziehen los.
Pilze in Gemeinschaft zu sammeln, ist eigentlich ein Unding.
Wie so etwas endet, kennt man vom großen Goldrausch in Alaska – Mord und Totschlag um jedes Nugget. Und was sind Pilze anderes als das Gold des Waldes? Die Szene der Sammler ist darum verschwiegener als ein Geheimdienst: Wer eine gute Stelle weiß, sagt es nicht mal den Verwandten.
Um solcherart Neid und Missgunst vorzubeugen, hat Pilzkenner Berger vorgesorgt: Am Ende soll alles in einen Topf, um dann gemeinschaftlich im Binzer Restaurant „Lennox“ zubereitet und gegessen zu werden. Der Koch heizt schon den Ofen.
Doch bis dahin ist es noch weit. Noch sind unsere Körbe leer, die Hände und Pilzmesser sauber. Ein paar Kilometer werden wir durch den Proraer Forst marschieren und immer schön vom Wege abkommen. Denn die einzigen Pilze, die man leicht findet, wachsen im Supermarktregal.
Es geht also durch Busch und Gestrüpp, über Moos und Feuersteine, durch Pfützen und um Bäume herum.
Und mal auch an Bäumen hinauf, jedenfalls mit dem Blick, denn schließlich sprießen einige Pilze gern an Stämmen. Berger hat einen dieser Pilze in seinem Korb: einen Leberpilz. Daneben liegt ein riesiger Parasol, was „Sonnenschirm“ bedeutet. „Schnitzel“, sagt jemand aus der Gruppe, der den riesigen Schirmpilz zu Hause genauso paniert. Außerdem liegt noch ein veritabler Steinpilz in Bergers Korb. Und was uns da wie ein Bund Knoblauch entgegenstinkt, ist ein einsamer Knoblauchschwindling. Das Ganze ist Bergers Anschauungsmaterial, er hatte die Pilze heute Morgen gepflückt. Vorsichtshalber, denn wer weiß, ob wir noch Ähnliches finden. Wie gesagt, der trockene Sommer, die Kälte …
Sagte ich „pflücken“? Einen Pilz muss man herausdrehen, einen Steinpilz zum Beispiel. Einem Rotfußröhrling geht man lieber mit dem Messer zu Leibe, der krallt sich zu fest in Erdreich. Dagegen brauche man einen Pfifferling nur anzupusten, sagt Berger, schon fällt er um. Wie auch immer, am Ende geht es stets darum, das fadenförmige Myzel im Boden nicht zu zerstören. Denn dies ist der eigentliche Pilz, der soll überleben. Was der glückliche Finder nach Hause trägt, sei der Fruchtkörper.
Bergers Erklärungen trösten uns über die Enttäuschungen hinweg. Noch ist Ebbe im Korb. Selbst die Steinpilze, die der fürsorgliche Pilzführer heute Morgen für uns unter Laub versteckt hatte, sind unauffindbar. Dafür sehen wir den aufgewühlten Boden. Als habe ein Traktor hier gepflügt. Wildschweine, sagt Berger angespannt.
Doch so soll es nicht bleiben. Schließlich ist Berger ein Experte, weil er mehr als die herkömmlichen Pilze kennt. Diese unscheinbaren, ach was, unansehnlichen Winzlinge etwa. Verschämt drücken sie sich ins Moos. Recht so. Berger sieht das anders. „Da sind Schwefelköpfe, die schmecken richtig gut.“ Allerdings, sagt er, nur die mit den grauen Lamellen. Die mit den grünen seien giftig.
Bei Pilzen kommt es offenbar auf die feinen Unterschiede an.
Die zeigen sich nicht nur in der Größe. Wichtig sei oft die Farbe. Und der Geruch. Und das Alter. Und die Konsistenz. Und vieles andere auch. Fernbestimmungen am Telefon macht Berger, der auch zertifizierter Pilzberater ist, deshalb nicht. „Da wird oft mit großer Kunst ein Pilz beschrieben, der mit dem Original keinerlei Ähnlichkeit hat.“ Auch die Sammelei nur mit dem Bestimmungsbuch stehe außer Frage. „Da weicht die Farbe im Druck oft sehr von der natürlichen ab.“ Berger muss die Pilze sehen, riechen, anfassen, erst dann erlaubt er sich ein Urteil. Bis heute war noch kein Todesurteil dabei, alle Kunden hätten überlebt, sagt der 60- Jährige.
Nach den Schwefelköpfen geht es Schlag auf Schlag. Immer wieder weist die Gruppe jetzt auf Pilze, die sie ansonsten links liegen gelassen hätte. Auf die Pfefferröhrlinge am vermodernden Baumstamm etwa, die leckere Gewürzpilze sind. Auf den Spargelpilz, der jedes Pilzgericht ziert. Der Pilz wird auch Schopftintling genannt, wegen seiner im Alter schwarzen Lamellen. Dann sei er nicht mehr essbar, warnt Berger. Wie er überhaupt jeden alten Pilz grundsätzlich wegwirft. Pilze bestehen zum großen Teil aus Eiweiß, und dies zerfällt halt schnell. „Manchmal bekomme ich Anrufe, weil jemand einen ‚giftigen Pilz‘ gegessen habe. Dann stellt sich heraus, es war ein Speisepilz, nur leider zu alt.“ Auch eine falsche Lagerung lasse die Pilze rasch verderben. „Einmal kam jemand mit einem Kofferraum voller Butterpilze. Die lagen da schon anderthalb Tage. Sie mussten alle weg.“ Pilze gehören in den Kühlschrank. Oder, besser noch, sofort auf den Tisch.
Berger, der schon als Kind ins Holz ging, kennt alle Pilznamen, und er weiß zu allen etwas: zu den Flaschenstäublingen, die stauben, wenn man drauftritt, zu den Safranschirmlingen, Lärchenröhrlingen, Fälblingen oder den „rot überhauchten“ Flämmlingen. Auch zu den Findlingen. Nein, halt, auch beim besten Willen ist der große Felsbrocken da am Wegesrand kein Steinpilz. Schade.
Erstaunlich viele der nicht nur mir völlig unbekannten Pilze aber sind tatsächlich genießbar.
Der prächtige Erdstern mit einer Art Halskrause aus Zacken, ist es leider nicht. Dennoch ist seine Finderin glücklich. „Ich werde ihn trocknen und als Adventsstern an den Weihnachtsbaum hängen“, sagt sie. Auch den gelblichen Knollenblätterpilz sollte man keinesfalls in den Topf tun. Eine aufgeregte Dame bringt den berüchtigten Pilz an. Sie atmet schwer, als habe sie soeben einen Killer gefasst. Gefährlich ist er sicher, sagt Berger. Allerdings, so schlimm, damit seine Schwiegermutter umzubringen, sei er wiederum nicht. Das sind vor allem die weißen oder grünen Knollenblätterpilze.
Und der da, den eine weitere Dame jetzt präsentiert, der ist sicher ebenso ungenießbar. Das sehe ich sofort. Schon weil er hier, so fern vom FKK, irgendwie anstößig wirkt. Für die Lateiner ist er darum der Phallus impudicus, für alle anderen ein Stinkmorchel. Warum ihn seine Finderin trotzdem voller Stolz vorzeigt, bleibt mir rätselhaft. Allein der Geruch …
Denn gerade jetzt habe auch ich einen Pilz gefunden, und was für einen! Den Pilz des Tages!
Triumphierend halte ich einen wunderbaren Steinpilz hoch. Brauner Hut, heller Stiel, groß und knollig. Gab es je einen schöneren? Kamera raus und ab damit ins „Guinessbuch der Rekorde“. „Aha, da haben wir einen Dachpilz“, sagt Berger weit weniger begeistert. „Kann in den Korb, schmeckt aber eher verhalten.“ Ob ich denn die rosafarbenen Lamellen nicht bemerkt hätte? „Notpilz“, nennt er ihn, oder „Kriegspilz“. In den Hungerjahren seinerzeit habe man den Pilz in rauen Mengen gegessen. „Er war zwar fade, aber füllte den Magen.“ Immerhin, jetzt ist mein Korb nicht mehr leer.
Den schamlosen Stinkmorchel dagegen lobt Berger. Er sei ein hervorragender Speisepilz. Allerdings nur, wenn er noch im Jugendstadium ist. Dann sehe er wie ein Ei aus, umhüllt von einem gallertartigen Mantel. Prompt findet die Stinkmorchel-Dame auch so ein „Hexenei“ genanntes Exemplar. Jetzt sucht die ganze Gruppe nach Eiern, was die Veranstaltung mehr denn je wie Ostern im Herbst aussehen lässt. Doch sie finden nur Fliegenpilze.
Was heißt nur? Zum einen ist so ein roter, weiß gepunkteter Fliegenpilz ein herrlicher Anblick. Aber vor allem: Wo Fliegenpilze sind, sind Steinpilze nicht weit. Und: Voila! Da ist auch schon ein echter, über alle Zweifel erhabener Steinpilz. Und da noch einer. Und da und da! Einige sind so schön, als wären sie modelliert. Die Gruppe jubelt. Auch Berger ist erleichtert. Er kannte die Stelle selbst noch nicht. Und das Beste: Die Wildschweine auch nicht.
Es ist, als belohne uns die Natur nun für unseren Sammlerfleiß.
Denn jetzt finden wir sogar Hallimasche und Maronen, und weiter voran, mitten auf dem Weg, der mal eine Panzerstrecke war, prangt ein bilderbuchreifer Butterpilz. Das Happy End dieses Tages aber ist eine Krause Glucke. Wie eine verirrte Koralle „saß“ sie hinter einem Baum. Die Förster sehen den Baumschädling nicht so gern, der Pilzkenner aber weiß ihr bissfestes Fleisch zu schätzen. Ab in den Korb damit, aber schön vorsichtig, sie zerbröckelt leicht.
Zum Schluss sind tatsächlich fast alle Körbe ordentlich gefüllt. Die Truppe macht sich zurück auf den Weg nach Binz. Im „Lennox“ gibt es am Abend einen bunten Mix aus exquisiten, bekannten und weniger bekannten Pilzen. Auf jeden Fall eine neue Kreation. Vielleicht sollte man das Gericht „Binzer Allerlei“ nennen.
PS:
- Die Wanderung war vor anderthalb Wochen. Inzwischen wachsen die Pilze richtig gut. Es kann doch noch ein gutes Pilzjahr werden.
- Alle haben überlebt und schwärmen immer noch.
Ein herzliches Dankeschön für den Beitrag an die Kurverwaltung Binz und an Maik Brandenburg. Hier geht es zu den Binz-Geschichten.
Ein kleiner Nachschlag:
Pilzwitze
„Willst Du mit mir fliegen, Pilz?“ „Ne, ich gehe lieber zu Fuß, Pilz!“
Nach einem üppigen Pilzmahl setzt sich der Pilzkenner satt und überaus zufrieden in den Sessel und blättert im Pilzhandbuch. Plötzlich wird er blass und lässt das Buch auf den Boden sinken. Daraufhin fragt ihn einer seiner Gäste, was los wäre. Darauf antwortet er: „Jetzt kann uns nur noch ein Druckfehler retten…“
Eine Schnecke kriecht über den Waldboden und trifft eine andere Schnecke. „Warum hast du denn ein blaues Auge?“ „Ich bin gestern durch den Wald gerast und plötzlich schoss ein Pilz aus der Erde.“
Beim Spaziergang sagt Erna zu Ihrem Mann:
„Sieh mal Schatz, die vielen Pilze. Manche stehen paarweise, manche einzeln. Was mögen wohl die Einzelnen für Pilze sein?“ „Glückspilze!“
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