52 Gesichter der Insel Rügen: Meinhard Nehmer #51of52


Holger Vonberg ist gebürtiger und bekennender Rüganer. Sein Berufswunsch als Zweijähriger: „Urlauber Baabe“. Das hat nicht ganz geklappt. Ab 1991 war er als Journalist u. a. für den NDR, die OZ und den „Urlaubs-Lotsen“ auf der Insel unterwegs. Bis März... mehr

Meinhard Nehmer | Dreifacher Bob-Olympiasieger, Jahrgang 1941

In der Ruhe liegt die Kraft

Bodenständig, besonnen, bescheiden. So kennen die Wittower ihren Nachbarn, den Rentner Hobbylandwirt, Traktor-Schrauber, Jäger und Angler Meinhard Nehmer. Geboren wurde er 1941 im pommerschen Boblin bei Stettin. 1945 musste die Familie ihre alte Heimat verlassen. Als Bauern starteten seine Eltern in Varnkevitz bei Putgarten einen Neuanfang – auf der Halbinsel Wittow, im Norden der Insel Rügen.

Das raue Windland wurde Meinhards Abenteuerspielplatz, seine erste Trainingsstätte. Hätte man den Eltern damals prophezeit, dass ihr Sohn später dreimal Olympiagold, einmal Bronze und mehrere Weltmeistertitel „ernten“ würde, sie hätten ungläubig mit den Köpfen geschüttelt. Erst recht, wenn man ihnen gesagt hätte, dass Meinhard eines Tages auch als Bob-Trainer mit Mannschaften aus den USA, Italien und dem wiedervereinten Deutschland sportliche Erfolge bei den Olympischen Spielen, bei Welt- und Europameisterschaften feiern würde.

Meinhard Nehmer ging zunächst in Zühlitz bei Altenkirchen zur Schule und arbeitet nach der achten Klasse dann auf dem Hof der Eltern. Es folgte die Berufsschule in Wiek. Selbst vom tiefsten Schnee ließ er sich nicht abhalten, zum Unterricht zu kommen, erinnerte sich seine ehemalige Lehrerin Kittler 1976 in einem Brief an das Fernsehen der DDR.

Meinhard Nehmer lernte von 1961 bis 1963 Wetterdiensttechniker am Kap Arkona, machte später seine 10. Klasse nach.

Als Speerwerfer wollte der Armeesportler ganz nach oben, doch mehr als 81,50 Meter waren nicht drin. Verletzungsbedingt hörte er mit dem Speerwerfen auf, wurde überredet, als Bobfahrer weiter zu machen und fuhr schon nach zwei Jahren im Eiskanal an die Weltspitze. Klingt einfach, war aber harte Arbeit, eiserne Disziplin, ausgefeilte Technik, großes fahrerisches Können, starker Wille. Und pommersche Gelassenheit, mit der er seine Konkurrenz über Jahre irritierte.

Und ganz sicher trug auch dazu bei, dass der Insulaner Meinhard Nehmer in Oberhof auf einer Bahn trainierte, die der Rügener Landbaumeister Ulrich Müther mit seinen Spezialisten nur wenige Jahre zuvor gebaut hatte. Es war die zweite Kunsteisbahn der Welt und die weltweit erste komplett an einem Computer (in diesem Fall war es ein Großrechner in Dresden) konstruierte Rennrodel- und Bobbahn. Maßgeblich beteiligt war der Schweriner Bauingenieur und Bobbahnenkonstrukteur Udo Gurgel vom Wissenschaftlich-Technischen Zentrum für Sportbauten Leipzig. Mit ihm hatte Müther das schalungslose Betonspritzverfahren für Rennrodel- und Bobbahnen entwickelt. Und das hat sich gelohnt:

Am 4. Februar 1976 trug der damals 32-jährige Armeesportler und Bob-Pilot Meinhard Nehmer die DDR-Fahne beim Einmarsch der Olympioniken vor 60 000 Zuschauern ins Bergisel-Stadion – und vor rund 750 Millionen Menschen an den Bildschirmen. Nur wenige Tage danach wurde die von Hanns Eisler komponierte Nationalhymne der DDR noch zweimal für ihn und seine Mannschaft intoniert und noch zweimal die schwarz-rot-goldene Flagge mit Hammer, Zirkel, Ährenkranz für die Bobfahrer gehisst. Auf dem Siegerpodest: Meinhard Nehmer und Bernhard Germeshausen (Zweierbob) und Nehmer mit seinem Viererbob-Team Jochen Babock, Bernhard Germeshausen und Bernhard Lehmann.

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„Heimat ist da, wo ich aufgewachsen bin“, sagt Meinhard Nehmer, der einzige Ehrenbürger der Insel Rügen. Zu DDR-Zeiten wurde er mit diesem Titel ausgezeichnet. Welche Vorteile dies gebracht hat? Er hätte wohl auf Hiddensee oder in Putbus ein Haus bauen können, aber das wollte er nicht. Er wollte nur zurück nach Varnkevitz in das Haus seiner Eltern. Und das sollte auch gelingen.

Nach seiner aktiven Laufbahn als Leistungssportler wurde er 1982 in die 6. Flottille nach Dranske versetzt, wo der Ingenieur für Landmaschinentechnik als Offizier für Ausbildung und Instandsetzung für drei Jahre im Einsatz war, bevor er wieder zum ASK „Vorwärts“ nach Oberhof musste, um als Berater und Tester für die Bob-Technik weiter an den Erfolgen der DDR-Sportler zu feilen, zu tüfteln, zu arbeiten. . .

Oktober 2015. Es ist Herbst auf Rügen, 25 Jahre nach der deutschen Einheit. Es regnet an diesem grauen Tag. Langsam trottet sein großer, alter Schäferhund Leopold über den Hof in Varnkevitz. Während Renate Nehmer in der Küche Apfelmus für den Winter und für die Kinder und Enkel einkocht, schließt ihr Mann in der guten Stube eine grünlich-silberne Stahlkassette auf. Zum Vorschein kommen seine Olympia-Medaillen, auch seine wertvollste, die Goldene von Lake Placid im Viererbob (1980).

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In der Stahlkassette liegen Erinnerungen an eine gute sportliche – aber für die Familie doch recht schwere Zeit. Zahlreiche Umzüge hatten die Nehmers zu absolvieren. Oft war er auch in Trainingslagern, auf Wettkämpfen und Lehrgängen, in Hotels und Pensionen in aller Welt – und sie mit den Kindern allein auf Wittow. Besonders schwer war es im Winter auf dem Windland.

Auch im Winter 1990/1991. Da war er zu Hause. Arbeitslos, enttäuscht, voller Fragen, nicht wissend, was werden würde. Denn mit dem Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 hatte auch die Nationale Volksarmee, sein Arbeitgeber, sang- und klanglos aufgehört zu existieren. Meinhard Nehmer war im vereinten Deutschland wenige Tage noch Angehöriger der Bundeswehr, degradiert vom Fregatten- zum Korvettenkapitän. Dann wurde er entlassen, nur drei Monate, bevor er Anspruch auf Übergangsrente gehabt hätte.

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Meinhard Nehmer verstaut die wertvollen Medaillen, verschließt die Stahlkassette, legt auch die Olympiabücher von 1976 und 1980 beiseite. Nur knapp zwei Wochen nach unserer Begegnung hatte er in diesem Oktober 2015 noch einmal Gold in seinen Augen. Mit seiner Frau feierte er nämlich die Goldene Hochzeit: „Und meine Renate hatte die größte Aktie an meinem sportlichen Erfolg.“

Insel Rügen. #25JAHRE

Nach dem Mauerfall in die Reisefreiheit. Deutschland feiert im Jahr 2015 „Silberhochzeit“: 25 Jahre Deutsche Einheit. Die Insel Rügen erinnert mit der Kampagne „#25JAHRE“ an jene Zeit vor und nach dem Mauerfall. Wie haben die Menschen auf Rügen, Ummanz und Hiddensee die gesellschaftliche Wende erlebt? Wie war ihr Leben in der DDR – an der unsichtbaren Mauer, die Ostsee hieß? Und wie ging es im neuen, vereinten Deutschland für sie weiter? Rügen hat sie: Menschen mit ihren spannenden Geschichten, authentisch, ehrlich, emotional, überraschend. Jede Woche des neuen Jahres steht für 52 dieser Gesichter, die immer freitags in Kurzfilmen auf Youtube (youtube.com/wirsindinsel), Vimeo und im Blog www.wirsindinsel.de gezeigt werden: Plattdänzer und Plattschnacker, „Ureinwohner“ und Neurüganer, Sänger, Künstler, Mitgestalter, eine Meisterin, der Wetterfrosch, der Nachbar und die Nachbarin. Spannende Geschichten, die zeigen, wie tief so manche Wurzel in die Rügener Geschichte hinein reicht, was Glück und was Heimat bedeuten und wie sich Zeiten und Menschen ändern, ob Wünsche und Träume wahr wurden oder Hoffnungen sich vielleicht doch nicht erfüllt haben. #25JAHRE ist ein Projekt voller Emotionen, ein Stück bewahrter Zeitgeschichte, ein Teil von Rügen.


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