Aber das Eisgebäu
Das umsunkene von Grün ,
Wäldergewölk
und der Vorwelt wehender
Sagenlaut, das Klirren
zerbrochenen Liedes,
es fuhren
aus, die´s gesungen.
So beschreibt Johannes Bobrowski die „Rügensche Küste“ in einem Gedicht vom April 1956, fast auf den Tag genau heute vor 59 Jahren. Vieles davon findet sich in den Bildern von Gottfried Sommer wieder : das Eis, umsunken von Grün, das Wäldergewölk und der Sagenlaut der Vorwelten, übersetzt in Farben und Licht. Im April 1956 studierte der junge Maler an der Dresdener Hochschule für Bildenden Kunst bei Erich Fraaß und Paul Michaelis, nachdem er zwischen 1952 und 1955 die Arbeiter- und Bauern-Fakultät für Bildende Künste bei Otto Griebel und Werner Hofmann absolviert hatte. Namen längst vergessener Künstler, die aus der Schule des kritischen Realismus kamen, aber ihren Studenten auch die Werke der Impressionisten nahebrachten, mitunter sogar der Abstrakten, die damals als Formalisten verpönt waren. Aber auch das war möglich im Tauwetter der fünfziger Jahre, bevor mit Chrustschows Sturz die zweite Eiszeit des Sozialismus hereinbrach, deren kaltes Licht auf vielen Bildern dieser Zeit wiederzufinden ist, gespiegelt in den Augen von Porträtierten oder in Landschaften, über die das Klirren zerbrochener Lieder hinging.
Wer weiss, ob der Sohn eines vogtländischen Handlungsgehilfen und einer Näherin unter anderen Umständen auf eine Kunsthochschule gekommen wäre, nachdem er Dekorationsmaler gelernt hatte und nebenbei von einer befreundeten Malerin private Zeichenstunden erhalten hatte? „ Man kann nie genug Leben kennen“, war das Motto von Johanna Ehlich und ihm ist Gottfried Sommer gefolgt: im Stahlwerk Freital, wo er die Arbeiter an der Walzstraße zeichnete, als Referatsleiter für Kunst beim Rat der Stadt und als Stellvertretender Direktor des Museums der Geschichte Dresdens. Er hat Werktätigen beim Zeichnen und Malen geholfen, so wie ihm geholfen worden war, er hat für sie Ausstellungsorte gefunden und Freiräume geschaffen, er hat ihnen Fenster zur Welt geöffnet, wie es die guten Lehrer tun. Sein Atelier war nie ein Elfenbeinturm und man sieht es an der Genauigkeit und Empathie seiner Zeichnungen, an den Porträts von Ruth Werner, Hans Marquardt und seiner Mutter, an den Selbstbildnissen und den Gesichtern von Fremden, denen er auf seinen Reisen durch die Sowjetunion und die Republiken Mittelasiens begegnet ist.
Aber auch die Weiden, die Gottfried Sommer immer wieder gezeichnet und gemalt hat, sind Porträts, Gesichter aus jener Vorzeit, als noch Märchen und Sagen an die Schrecken von Krieg und Hunger erinnerten, aber auch an Heimat und Heimkehr.
Die Bilder Gottfried Sommers erinnern mich an meine Kindheit auf Rügen, an den fahlen Wintermond über den Jasmunder Feldern, an das erste Frühlingsgrün, das aus verschneiten Furchen bricht, an leuchtende Rapsfelder im Mai und das spielende Licht in den Buchen am Hochufer der Stubnitz.
Alle Malerei versucht, trotz Goethes Diktum, die Zeit anzuhalten: „Verweile doch, du bist so schön.“ Aber zeitgemäße Malerei zeigt im Verweilen auch das Flüchtige und im Festgehaltenen das, was für Augenblicke aufleuchtet: die Übergänge von der Nacht in den Morgen und von der Abend-dämmerung in die Nacht. Dazwischen liegt das Spektrum der Jahreszeiten, von uralter Fülle und Vielfalt, in die das Licht unseres Industriezeitalters einbricht, mit seinen Kriegen und Katastrophen. Die Aquarelle und Acrylbilder Gottfried Sommers zeigen auch diese Übergänge in all ihren Schattierungen und Farbnuancen, im Aufscheinen und im Vergehen des Lichts, in den Landschaften begrabener Geschichte.
Es ist das Licht der Nebensonnen, das Franz Schubert in der „Winterreise“ in Musik übersetzt hat. In diesem Licht stehen die Weiden unter der fahlen Sonne des März oder unter dem Novembermond, Jahreszeiten des Übergangs und der deutschen Revolutionen, Jahreszeiten der Hoffnung und des Scheiterns. Sie wecken auch die Erinnerung an den Herbst vor 25 Jahren, als es unendlich viel Hoffnung zu geben schien, aber, wie schon Kafka wusste, nicht für uns.
Das fahle Licht des kommenden Krieges liegt über diesen Feldern und Weiden-Alleen und erinnert mich an den Armierungssoldaten Franz Woyzeck, der am Stadtrand Weidenstecken für seinen Hauptmann schneidet, Stecken für den Spießrutenlauf auf den Exerzierplätzen Europas, der das Feuer am Himmel sieht und die Posaunen hört, die keiner hören will. „Hohl da unten, alles hohl!“, spürt Woyzeck und ich sehe ihn auf einer Allee entlangmarschieren wie jenen Johann Christian Woyzeck, der 1809 als Soldat in Stralsund stationiert war und unter dem Schwert des Henkers auf dem Leipziger Marktplatz starb. In der Erinnerung bleibt der Mond der Novembernächte über den Straßen und Plätzen im Herbst 1989 und das Licht in den Gesichtern, in denen der alte Traum noch einmal aufleuchtete und der seit 25 Jahren wieder zum Hohn geworden ist: dass alle Menschen gleichen Anteil haben sollten am Reichtum dieser Erde. Diesen Traum sehe ich in den Porträts Gottfried Sommers und in seinen Landschaften, deren Stille und Weite uns zum Nachdenken auffordern.
Auf der Fahrt nach Rügen höre ich die Lemuren-Chöre, wie sie plötzlich wieder der Werte des Abendlandes beschwören, die sie längst verraten und verkauft haben, aber nun gegen die Bedrohung aus dem Osten zu verteidigen vorgeben. Die dritte Eiszeit kehrt zurück und die Stürme nehmen zu, die die Weiden zerbrechen und die Buchen vom Hochufer ins Meer stürzen, das zu steigen beginnt wie in den Tagen der Sintflut. Und auch das fahle Licht nimmt wieder zu, in der Stunde zwischen Hund und Wolf, in der die Gespenster umgehen, die schon Heine und Marx und Brecht gesehen haben, bevor die Flut über Deutschland zusammenschlug und sie mit jenem braunen Schlamm bedeckte, der bis heute nicht getrocknet ist.
Ich beglückwünsche Gottfried Sommer und alle, die an dieser Ausstellung mitgearbeitet haben und danke ihm und seiner Frau Ursula für die Möglichkeit, dieses Frühjahr mit seinen Arbeiten verbracht zu haben. Sie werden bleiben, selbst wenn die Finsternis überhandnehmen sollte.
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