Auf zum „weißen Gold“


Seit 2004 arbeitet Janet Lindemann als Freie Journalistin auf der Insel Rügen. Sie interessiert sich besonders für die Themen Kultur, Natur, Tourismus und Reisen. Ihre Text- und Bildbeiträge erscheinen unter anderem im Sommer-Magazin der Ostsee-Zeitung, dem Magazin für schlaue Eltern... mehr

Morgens bei Dargast auf der Halbinsel Jasmund. Kein Windzug weht über das Inselland. Die hochgewachsenen Buchen stehen kerzengerade. Das Wasser im alten Kreidetagebau bewegt sich nicht. Die Tröpfchen Morgentau auf den Grashalmen leuchten im warmen Sonnenlicht. Ein schwarz-weißer Schmetterling, ein Schwalbenschwanz, lässt sich auf einem Stängel nieder. In der Ferne ist eine Lerche zu hören. Die Landschaft im Nordosten der Insel Rügen ist nicht nur besonders reizvoll, sondern ermöglicht auch eine Begegnung mit der wechselvollen Geschichte dieser Region. Die alten Kreidebrüche von Jasmund zeugen von dem mehr als 150 Jahre andauerndem Bergbau. Manfred Kutscher, Vorsitzender des Vereins der Freunde und Förderer des Nationalparks Jasmund e.V., Kreideexperte und Buchautor, kennt die Geschichte genau. Mit Zustimmung der Kreidewerk Rügen GmbH führt er interessierte Besucher in den einzigen aktiven Tagebau der Insel – in den Tagebau Promoisel. Dort dürfen sie nach den Versteinerungen der Kreidezeit suchen. Diese Chance gibt es bis zum 20. Oktober zweimal im Monat.

DSC_0560Treffpunkt ist eine Parkfläche hinter dem Landgut Dargast bei Sassnitz. Bevor sich heute die knapp 30-köpfige Gruppe in Bewegung setzt, erklärt Kutscher die Regeln: „Das Betreten geschieht auf eigene Verantwortung. Kinder müssen in der Nähe ihrer Eltern bleiben.“ Gesucht wird bei den Exkursionen nicht direkt im Tagebau, sondern an einer für Besucher freigelegten Stelle am Kreidebruch. „Die früher praktizierte Sucherei wurde zu gefährlich“, sagt Kutscher. Der Weg zum Tagebau führt über eine naturbelassene Wiese mit seltenen Tieren und Pflanzen. Linker Hand schlängelt sich das Förderband an Kreidebergen vorbei. Auf diesem wird die Rohkreide in das Kreidewerk Klementelvitz bei Sassnitz transportiert. Das Werk gehört heute zu den modernsten in ganz Europa.

„Das Wort Kreide ist der verkürzte Ausdruck für die Kreidezeit. Das in diesem Zeitraum entstandene Gestein bezeichnet man als Schreibkreide“, sagt der Wissenschaftspreisträger der baden-württembergischen Alberti-Stiftung. Diese ist um die Popularisierung der Paläontologie – der Wissenschaft von den Lebewesen vergangener Erdzeitalter – bemüht. „Geschrieben wurde mit der Kreide übrigens nie, sondern mit Gips“, verdeutlicht der 68-jährige Sassnitzer. Am Tagebau angekommen, begeben sich die Sammler sofort mit ihren spitzen Hämmern auf Schatzsuche. Wenig später steht Schüler Lennard Wroblewske mit einem Klumpen Kreide vor Kutscher. Begeistert zeigt er auf ein filigranes Gebilde darin. „Das ist ein Moostierchen“, klärt der Experte auf.

Bereits vor mehr als 100 Jahren wurde in den Seebädern auf Rügen auf die Wirkung des „weißen Goldes“ gesetzt. Anwendungen mit Heilkreide haben hier folglich eine lange Tradition. Konkret entstanden um 1910 in Sassnitz die ersten Kreidebäder, was dem Ort den Status eines Kreideheilbades einbrachte. In den 1930er Jahren führte unter anderem der Sassnitzer Chefarzt Dr. Friedrich Karl Wünn erfolgreiche Versuche mit Rügener Heilkreide durch. Er bescheinigte bei 97 Prozent seiner Patienten eine günstige Wirkung, etwa bei Problemen mit dem Bewegungsapparat. Bereits damals setzte man das weiße Pulver auch als Schönheitsmittel ein. 1972 wurden die Anwendungen jedoch vorerst eingestellt. Erst Mitte der 1990er-Jahre erlebt der Rohstoff als Heilmittel eine Renaissance. „80 Tonnen Heilkreide werden pro Jahr von den Vereinigten Kreidewerken Damman auf Rügen gewonnen“, verdeutlicht Anke Jerchel vom Kreidewerk Rügen. Sie ist Vorstandsmitglied im Verein Rügener Heilkreide e.V.

Die Original Rügener Dreikronen-Heilkreide schätzen Experten aufgrund ihrer Reinheit und Feinheit. Eingesetzt wird sie nicht nur für Anwendungen in den Bereichen Wellness und Kosmetik, sondern auch für die Behandlung von verschiedenen Beschwerden und Krankheiten. „Sie ist unter anderem bei Muskelverspannungen, Gelenkbeschwerden und rheumatischen Erkrankungen, aber auch bei verschiedenen Hautkrankheiten wie Neurodermitis und Schuppenflechte gefragt“, weiß Vereinsvorsitzender und Physiotherapeut Dieter Hoffmann. Nebenwirkungen sowie allergische Reaktionen sind bei sachgemäßer Anwendung nicht bekannt.

In einem Gutachten der Dartsch-Scientific GmbH aus Baden-Württemberg wurde vor kurzer Zeit sogar die entzündungshemmende und die Wundheilung fördernde Wirkung der Heilkreide wissenschaftlich nachgewiesen“, ergänzt Projektmanagerin Verena Kulessa. „Die Rügener Kreide ist eine Besonderheit in unserem Land, ein echter Schatz“, betont die Landschaftsarchitektin.

wg„Mehr als 14.000 Kreide-Anwendungen werden von den Vereinsmitgliedern jährlich in Praxen, Wellness-Einrichtungen und Hotels der Insel durchgeführt“, sagt Anke Jerchel. Aktuell gibt es im Handel etwa 30 Produkte mit der Original Rügener Heilkreide – darunter Pflegeprodukte und Zahncreme. Diese Erzeugnisse sind nicht nur deutschlandweit, sondern auch in der Schweiz erhältlich. Man kann sie auch über das Internet beziehen. „Die Heilkreide hilft sogar bei Sonnenbrand“, hat Fachmann Hoffmann einen speziellen Tipp parat. Er empfiehlt eine wirksame Packung aus Kreide und Natur-Joghurt: „Dabei sind einfach vier Esslöffel Kreide mit zwei Esslöffeln Joghurt, sowie etwas Wasser anzurühren. Das Ganze auftragen und fertig. Dieser Mix sorgt für eine Entspannung der gereizten Haut und fördert die Heilung.“

Im Nordosten der Insel Rügen befindet sich das Kreidemuseum Gummanz, das 2005 an einem Originalschauplatz des Kreideabbaus eröffnet wurde. In einer restaurierten Werkhalle, die bis 1962 in Betrieb war, ist eine Ausstellung über den Kreideabbau, die Geologie und Fossilien zu sehen. Zum Museum gehören ein Kreide- und Naturlehrpfad sowie ein Freilichtmuseum. Hier befindet sich auch der „kleine Königsstuhl“.

Mehr als 600.000 Touristen pilgern alljährlich zu dem berühmtesten aller Kreidefelsen, dem 118 Meter hohen Königsstuhl. Der Legende nach soll derjenige damals zum König bestimmt worden sein, dem es als Erstem gelang, von der Seeseite aus den Kreidefelsen zu erklimmen und sich auf den oben aufgestellten Stuhl zu setzen. Überhaupt ranken sich um die Kreideküste viele Sagen und Geschichten. Eine von ihnen besagt, dass hier der berühmte Seeräuber Klaus Störtebeker einen Schatz versteckt haben soll. Gefunden hat ihn bisher allerdings noch niemand. Dass Rügens Kreideküste so berühmt geworden ist, ist auch dem Maler Caspar David Friedrich (1774 – 1840) zu verdanken. Mit seinem Gemälde „Kreidefelsen auf Rügen“ hat er um 1818 dem „weißen Gold“ ein Denkmal gesetzt. Das Aussehen der Kreideküste verändert sich ständig. Die Kreideküste ist vielen Formungskräften der Natur ausgesetzt. Gerade beim Wechsel von Frost und Tauwetter kann ein Spaziergang unterhalb der Kreidefelsen sehr gefährlich sein. Im Februar 2005 nahm sich die Natur ein Wahrzeichen: die „Wissower Klinken“. Auf einer Länge von mehr als 100 Metern lösten sich damals rund 20.000 Kubikmeter Kreide und Mergel aus der Kreidewand und stürzten in die Tiefe. Dann kommen Fossilien zum Vorschein, die versteinerten Reste vorzeitlicher Lebewesen, meist von Tieren, die heute längst ausgestorben sind. Donnerkeile sind die am häufigsten gefundenen Fossilien. Das sind Reste von Kopffüßern, die den heute lebenden Kalmaren sehr ähnlich waren. Beliebt sind auch die Feuersteinkerne kleiner Seeigel oder Schwämme, Fossilien aus Kieselsäure oder Kalk.

Text + Fotos: Janet Lindemann-Eppinger


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