Es ist früh am Morgen in der Stubnitz, und Frank Meier spielt mit mir „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Er geht tief in die Hocke, kriecht übers Moos. „Hufabdrücke“, murmelt er. „Ballen, Ballen, Spitze.“ Er steht wieder auf. „Darüber eine kleine Delle, alles klar?“ Ähm, ja, Spuren halt. Meier lächelt. „Na, Mufflons. Und ein Frosch, der drübergehüpft ist.“ Aha, Mufflons, Frosch, was sonst? Wir gehen weiter durchs Unterholz. Ich erkenne Buschwindröschen, Meier sieht mehr: Natternzunge, Klappertopf, Sumpsitter, wo gibt es die heute noch? Laufkäfer zwischendrin, Perlmuttfalter und Blutströpfchen über Blüten. Leben, Spuren überall. Man muss nur gucken lernen.
Keine hundert Meter weiter fällt Meier wieder auf die Knie. „Oh, hier“, ruft er. Er sieht mich an. „Na?“ Bärenkrallen würde ich vermuten, wenn es nicht so abwegig wäre in diesem Teil Deutschlands. „Für ein Reh zu groß. Und bei einem Wildschwein wären es mehr Hinterzehen“, sagt Meier. Tja, nun, ähm. „Damwild“, sagt Meier endlich. „Einer mit dickem Geweih dabei, seine Spuren sind tiefer.“ Vor gerade zwei Stunden seien sie hier entlangzogen, alles noch ganz frisch.
Wir marschieren weiter, der Ranger und ich. Quer durch die Stubnitz, dem schönsten Teil vom Nationalpark Jasmund, dem kleinsten Deutschlands. Wir queren Bäche, stapfen über sumpfige Wiesen und an Moore vorbei, steigen über umgestürzte Bäume. Der Boden ist weich, aber das täuscht: Knapp unterm Humus ist die mächtige Rügener Kreide. Am nahen Königsstuhl, dem leuchtenden Felsen am Steilufer, stößt sie beeindruckend hervor. Hier, zwischen Buchen, Erlen, Fichten und Eschen, ist der nur eine ferne Ahnung. Wir laufen durch eine lange Waldgasse, rechts und links steigt der Boden wie erstarrte Wogen auf. Das sind Stauchwellen aus der Eiszeit, sie hat die Gegend wie einen riesigen Teppich gefaltet. Die Waldgassen, sind Hauptstraßen für das Wild.
Darum wieder Spuren, Damwild. Sie werden gekreuzt von Rotwild-Tritten, von Wildschweinspuren. Meier bemerkt einen „schlanken Fünfer“, das war ein Marder. Dann ein Marderhund, das Trittsiegel „eher breit als lang“. Meier klaubt eine gefleckte Feder auf, „ein Bussard“. Er streicht damit über einen Abdruck. „Fünf Zehen, ein Fuchs.“ Auch Dachsspuren erkennt er. Nicht weit ist die Höhle von Meister Grimmbart, ein Loch neben der mannshohen Wurzel einer sturmgefällten Buche. „Viel Truppenbewegung heute früh“, fasst Meier zusammen.
Nicht weit davon wieder ein außergewöhnlicher Fund: Scherben vor einem Stamm, aus Feuerstein. Der Arbeitsplatz eines Handwerkers der Bronzezeit. Reste einer Klinge, einer Pfeilspitze vielleicht. Sein Grab mag unterm kleinen Hügel dort drüben sein, die Stubnitz ist voll davon, ein großer Friedhof der Frühgermanen. Glasbruch an einem Baum, eine Zigarettenschachtel, eine Plastikdose. Moderne Steinzeitmenschen gibt es hier wohl auch noch.
Der Müll ist ein Sakrileg in diesem streng geschützten Park. In diesem „Rückbesinnungsgebiet für die Natur“, wie Ranger Meier das nennt. „Wir lassen sie in Ruhe, damit sie heil wird.“ Der Nationalpark Jasmund, unter der Haube des Nationalparkgesetzes, heilt seit bald 30 Jahren.
Und weiter geht’s. Es gibt noch so viel zu entdecken, sagt Meier. Denn war dies nur der Beginn meines Lehr-Gangs mit dem Ranger durch die Stubnitz, dem Wildnisparadies am Meer. Nur die erste Stunde am Morgen.
Dieser Beitrag ist Teil der Veröffentlichung von Maik Brandenburg und Harald Schmitt namens „Rügen – Neu entdecken“. Bestellbar hier.
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