Auf der Spur der Pflanzengeister


Maik Brandenburg ist als Reporter weltweit unterwegs für Magazine wie Mare, Geo, Merian und Free Man's World. Auch, wenn das Reisen seine Leidenschaft ist: "Am Ende zählt, dass ich stets wieder auf Rügen lande", sagt er. Brandenburg lebt mit seiner... mehr

Für René Geyer, besser bekannt als „Kräutergeyer“, sind Pflanzen nicht einfach Blatt, Stängel und Blüte. Für ihn sind sie reale Lebewesen. „Pflanzengeister“, nennt er sie darum, wirkmächtige Geschöpfe der Natur. Nach einer Tour mit dem 46-jährigen mag man das gern glauben.

Heute ist er mit einer Gruppe Wissbegieriger auf dem Zickerschen Höft unterwegs, einer Nehrung auf Rügens Halbinsel Mönchgut. Das Höft ist Teil des Biosphärenreservates Südost-Rügen, wo auf kleinem Raum das Beste der Insel zusammenkommt: Halbinseln mit Wieken, Bodden und offener See, dazu schroffe Kliffs und dichte Schilfgürtel, breite Sandstrände und dunkle Buchenwälder, nicht zuletzt die gewaltigen Findlinge an steinigen Ufern. Auf dem Zickerschen Höft – laut Geyer „fast so groß wie der Central Park, nur viel schöner“ – sind es Rügens blumensatte Wiesen. Noch jetzt, Ende September, stehen sie in schönster Pracht.

Darum auch kommen wir nur langsam voran. Alle paar Augenblicke weist Kräutergeyer auf eine Pflanze am Wegesrand. Auf das Habichtskraut, die Pechnelke, das Gewitterblümchen. Zu jeder hat er eine Geschichte. Wie jetzt zur Schafgarbe, die Geyer wegen ihrer filigranen Blätter „die Augenbraue der Venus“ nennt – um sie gleich darauf ins Rührei zu empfehlen. Dies nicht nur wegen ihres würzigen Geschmacks. „Sie ist eine der heilkräftigsten Pflanzengeister Europas“, meint René Geyer. Sie helfe gegen Kopfschmerzen, Regelschmerzen, Magenbeschwerden. Außerdem habe sie, wie eigentlich die meisten Heilkräuter, allenfalls sanfte Nebenwirkungen. Wobei er die moderne Medizin keineswegs verteufeln will. „Aber warum soll man das alte Wissen nicht neu entdecken?“, fragt er. „Unseren Großeltern hat es doch auch geholfen.“
Sie kannten (und nutzten) heute kaum noch geläufige Arten wie das kleine Filzkraut, die Sandstrohblume oder den weißen Schwalbenwurz. Dabei müssen die Pflanzen gar keine schillernden Namen tragen. Der gewöhnliche Meerrettich tut seine cholesterinsenkende Wirkung auch so. Oder der Hasenklee, den Geyer als Mittel gegen Durchfall preist und den die Fischerbauern Mönchguts deshalb gerne „Morsstopper“ nannten. Oder hier, der Wilde Majoran, als Teeaufguss eine wunderbare Agens gegen Husten. „Seine rosa Blüten veredeln jeden Käse“, weiß Geyer außerdem und lässt reihum schmecken. Ach, und erst der Spitzwegerich, dieses Nullachtfuffzehn-Gewächs. Geyer hält ein Blatt hoch. „Gleich nach dem Pflücken einige davon in Honig einlegen, und nach ein paar Wochen ist das der beste Hustensaft.“ Geyer schätzt ihn zudem als Ersthelfer gegen Sonnenbrand, ein paar zerkaute Blätter reichen. Er legt sie sich zumeist in den Nacken. „Dort hole ich mir immer zuerst einen Sonnenbrand, weil ich nur nach unten schaue.“ Zu sämtlichen knapp 500 auf Rügen vorkommenden Pflanzen, schwört Kräutergeyer, könne er was erzählen

Aber nicht nur auf die Heilkräfte der Pflanzengeister achtet er dabei oder auf ihre kulinarischen Fähigkeiten. Für ihn sind die Wiesen auch „Augenschmäuse“. Die rosafarbene Sandgrasnelke etwa, die sich die Mädchen frühere Zeiten gerne in die Kränze flochten. „Wenn sich dann noch ein Feuerfalter auf die Blüte setzt …“ Geyer schnalzt mit Zunge. Der Kräuterexperte ist nebenbei ein begeisterter Fotograf. Oft kriecht er stundenlang auf allen Vieren, die Kamera im Anschlag. „Ich fotografiere immer auf Augenhöhe der Pflanzengeister, nie von oben herab“, sagt er. So viel Respekt vor den „duftenden Persönlichkeiten“ hat seinen Preis: Am Ende des Tages hat Geyer dann etwa das einmalige Bild einer gelbschwarzen Schwebfliege in einer Rundblättrigen Glockenblume. Zugleich aber auch schmerzhaft steife Gelenke. Zum Glück ist er mit einer Physiotherapeutin verheiratet. Er hatte die damalige Münchnerin vor Jahren bei einer seiner Führungen kennengelernt, „zwischen Ferkelkraut und Buntem Hohlzahn“.
Aus einem nahen Gehölz mit Ulmen, Schlehen und Wildbirnen schlägt der Pirol, darüber rüttelt ein Turmfalke im Blau, in der Ferne fahren Segelboote. Neben einem grünbewachsenen, verbuschten Hügel, darunter ein Großsteingrab der Jungsteinzeit, direkt im von Wildschweinen aufgewühlten Boden, findet Geyer dann noch etwas Besonderes. Keinen Pflanzengeist diesmal, sondern einen so genannten Stirnschaber, ein Werkzeug der frühen Bewohner der Insel. Bald, in den blütenlosen Monaten des Herbstes und Winters, wird Geyer wieder als Bodendenkmalpfleger über die Äcker und Wiesen ziehen und weitere Artefakte finden. Im Frühling aber kommen sie zurück – die Pflanzengeister und die Besucher Rügens, von denen jetzt einer in bestem Berlinerisch sagt: „Herr Geya, durch Ihnen seh‘ ick mein‘ Garten mit janz and’ren Oogen.“

Ostsee-Reportagen

Ostsee Magazin / Tagesspiegel

Der Beitrag von Maik Brandenburg ist Teil einer größeren Geschichte im Magazin des Berliner Tagesspiegel, Titelthema „Ostsee“. Bestellbar hier.


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