„Maass-Anzüge“ für Störti & Co. oder: Die vier Perlen mit den goldenen Händen


Holger Vonberg ist gebürtiger und bekennender Rüganer. Sein Berufswunsch als Zweijähriger: „Urlauber Baabe“. Das hat nicht ganz geklappt. Ab 1991 war er als Journalist u. a. für den NDR, die OZ und den „Urlaubs-Lotsen“ auf der Insel unterwegs. Bis März... mehr

Hinter den Piratenkulissen – zu Besuch in der Kostümschneiderei

Am 21. Juni legen die Seeräuber wieder mit ihren Koggen in Ralswiek an. Dann ist Rügen in Piratenhand. Bis zum 6. September ist „Gottes Freund“ (so heißt die diesjährige Inszenierung) „und aller Welt Feind“ auf der Naturbühne am Großen Jasmunder Bodden zu erleben: Klaus Störtebeker, der Robin Hood der Nord- und Ostsee. Mehr als 5,5 Millionen Zuschauer haben in den vergangenen 21 Spieljahren die abenteuerlichen Reisen des Piraten erlebt. Damit sind die Störtebeker-Festspiele das erfolgreichste Open-Air-Theater Deutschlands.

Vier Frauen kleiden Störtebeker, seine Seeräubercrew, die reichen Pfeffersäcke und das „gemeine Volk“ Jahr für Jahr in Ralswiek ein und an:
Christina Maass (sie zeichnet auch die Entwürfe), Maria Maass, Ilona Athmer und Angelika Baumgart. Die Schneiderei ist ihr Arbeitsplatz, gut bewacht vom Hund Lucky. Und dort finden wir auch jenen Stoff, aus dem die Träume sind: Samt und Seide mit und ohne Stickereien oder Perlen, Brokat, derbes Leinen und vor allem echtes Rindsleder. „Das ist haltbarer als Kunstleder und hat sich seit der Steinzeit bewährt“, lacht Tina Maass.

Etwa 20 Häute längst gegessener Paarhufer verarbeiten die Damen aus der Schneiderei im Schnitt. Eine Kuh liefert rund vier Quadratmeter, die entsprechend eingefärbt werden müssen. Für den Mantel und das Beinwerk des stämmigen Goedeke Michels (Andreas Euler) ist mehr als ein ganzes Rindsleder gebraucht worden, höre ich ein leises Flüstern.

Wie detailversessen die geschickten Schneiderinnen arbeiten, entdeckt der Zuschauer aus Reihe zehn in diesem riesigen Freilufttheater vielleicht nicht. Dennoch muss jeder Niet, jedes Schleifchen, jede Schnalle so perfekt wie nur möglich sein, während Reißverschlüsse gekonnt kaschiert werden, denn die gab es im Mittelalter noch nicht. Perfekt deshalb, weil einfach alles perfekt sein muss: die Kulisse, der Ton, das Spiel, der Einsatz des Adlers und der Koggen, die Stunts, das Gesamterlebnis Störtebeker. Das ist der hohe Anspruch der Piratencrew um Familie Hick. Das ist auch das Geheimnis des überwältigenden Erfolgs der Störtebeker-Festspiele am Großen Jasmunder Bodden.

Nur an den Sommer 2006 erinnern sich die Frauen ungern. Damals brannte die komplette Werkstatt im alten „Störti“ ab.
Alle Schauspielerkostüme der damaligen Spielzeit wurden Opfer der Flammen. Auch Nähmaschinen, Nadeln, Fäden, Knöpfe – alles weg. „Wir haben geheult wie noch nie“, blickt Maria Maass nachdenklich zurück. Aber dann haben sie sofort losgelegt, Kostüme aus dem alten Fundus aufgefrischt, neue Nähmaschinen gekauft. „In der Sattelkammer haben wir die Schneiderei provisorisch eingerichtet. Alles lief Hand in Hand. Und schon am Abend ging die Show weiter.“ Schließlich warteten Tausende Zuschauer auf das Piratenspektakel. Seitdem gibt es in der Schneiderei die Zeitrechnung „Vor dem Brand“ und „Nach dem Brand“.

Maria Maass begleitet mich in die Wäscherei. Riesige Waschmaschinen stehen dort in einem gefliesten Raum. Hier werden auch die Ledersachen mit speziellen Mittelchen gereinigt. Daneben ist ein großer Trockenraum, durch den tausende Kubikmeter heißer Luft gejagt werden können. Die nächste Tür führt zu einer Extra-Kammer für die nach Brandbeschleuniger „duftenden“ Spezialklamotten der Stuntleute. Ihre Sachen werden besonders strapaziert bei den Aktionen, über die viele Zuschauer staunend sagen: „Das geht ja auf keine Kuhhaut.“

„Wir haben während der Spielzeit immer das Wetterradar im Blick“, verrät Ilona Athmer. „So können wir rechtzeitig entscheiden, ob die Statisten unter ihren Gewändern grüne Gummistiefel tragen oder nicht.“ Manche Abende sind richtige Schlammschlachten. „Dann ist auch Hochbetrieb in der Wäscherei und in den Trockenräumen“, ergänzt Angelika Baumgart zwischen zwei Schlägen mit dem Niethammer. Ein ledernes Kleidungsstück mit aufwändig geflochtenem Accessoire bekommt den letzten „Schliff“. Die Anregung dafür hat Marketing-Chefin Anna-Theresa Hick in einer Modezeitschrift gefunden. Noch ein Schlag auf eine wie Gold glänzende Niete, dann ist auch Angelika fertig.

Jetzt kommen die ersten Schauspieler zum Ankleiden. „Ich bin dann mal bei den Jungs oben“, verabschiedet sich Ilona Athmer. Hund Lucky blinzelt müde und macht kaum Platz auf der Treppe. Auf die Bühne zieht es ihn nicht. Sein Revier ist die Schneiderei – bei den vier Perlen mit den goldenen Händen.


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