Nachkriegskindheit auf Rügen: Die Erinnerungen von Iris Bleeck sind im Thomas Helms Verlag erschienen.
Als zweijähriges Mädchen hat es Iris, die Eltern und ihre ältere Schwester nach Rügen verschlagen, damals am 31. August 1946. Sie kamen als Vertriebene, als unfreiwillige Umsiedler. „Der Krieg hatte, als er in Agonie lag, seine Faust geöffnet und Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen, Hinterpommern und dem Sudetenland ins Nirgendwo fallen lassen“, schreibt Iris Bleeck in einem sehr persönlichen Buch über ihre „Vertreibung ins Paradies“.
Das erste Nachkriegsjahr: Nach einer Volkszählung im Oktober 1946 war nahezu jeder zweite Einwohner des Landes Mecklenburg-Vorpommern Flüchtling oder Vertriebener, so auch auf Rügen. Unter ihnen Iris, ein Kind, „das den Weg seiner Eltern in eine ungewisse Zukunft mitging. Rügen hat mich seit meiner Kindheit nie wieder losgelassen.
Und diese enge Bindung, diese Inselliebe, findet sich auf jeder der 80 Seiten. Einfühlsam und mit viel Poesie reflektiert die Autorin ihre Erlebnisse aus jenen Jahren, malt mit Worten Bilder von der Ankunft in dem kleinen Ort Sissow, unweit von Gustow im Süden der Insel, und von der alten, schilfgedeckten Tagelöhnerkate, die ihr neues Zuhause werden sollte, „mein Wunderland, mein Zauberberg“.
Sie begegnete mit kindlicher Phantasie und Neugier der „Kornmuhme“, die sich mit blau wogender Krone im Roggenfeld versteckte und deren roten Schuhe aus Klatschmohnblüten genäht waren. Während sie sich damals vor Feen, Elfen und Waldgeistern fürchtete, reiste sie ihnen später nach. Iris Bleeck besuchte die Ureinwohner von Nord- und Südamerika, lauschte ihren Geschichten, fastete, durstete, tanzte mit ihnen und ließ sich fangen von ihrem Spirit, ihrem Geist. Auch darüber schreibt sie in dem Buch – und von ihrem Besuch der alten Heimat im Sudentenland und der Rückkehr nach Rügen im September 2010. Auch den von Hans Cibulka beschriebenen geheimnisvollen Ort Swantow sucht sie auf, erinnert sich an die vier uralten Eiben, deren Äste sich in der Kindheit wie mächtige Arme um sie schlossen. Diese Arme waren nun amputiert, „gedankenlos, ohne Erbarmen“.
Ende des Jahres 1970 siedelte die Autorin nach der Heirat mit Klaus-Jürgen Bleeck in den Westen über, arbeitete dort einige Zeit freiberuflich für den Deutschlandfunk. „Nebenbei“ machte sie eine Berufsausbildung zur Heilpraktikerin. Sie pflegte ihre schwerkranke Mutter, gab später die Praxis auf und konzentrierte sich auf das Schreiben. An ihre Mutter erinnert sie sich mit den Worten: „In ihrem Pflegebett spann sie eine feine, unsichtbare Nabelschnur, an der ich ewig mit ihr verbunden sein werde. Dabei war sie dem Meer so ähnlich in ihrer aufbrausenden Art, Sturm zu erzeugen, den Grund aufzuwühlen, Schätze ans Ufer zu spülen, sich zurückzuziehen, als sei nichts geschehen“.
Bereits 1996 veröffentlichte Iris Bleeck im Econ-Verlag den Ratgeber „Botschaften der Seele“, später im Mecklenburger Buchverlag „Altwerden ist nichts für Schlappschwänze“ und „Karamellbonbons für Engel“, eine spannende, magische Familiensaga. Und nun im Thomas Helms Verlag Schwerin ihre Flüchtlingsgeschichte „Vertrieben ins Paradies“, ein liebevoll geschriebenes Kleinod, das längst einen Ehrenplatz neben meinen anderen Rügenbüchern hat.
Holger Vonberg
Fotos: privat
„Vertrieben ins Paradies“ von Iris Bleeck ist im Thomas Helms Verlag Schwerin erschienen, hat 80 Seiten und kostet 9,80 Euro.
ISBN: 978-3-940207-77-7
3 Kommentare
25. Juni 2014 | 23:42
Sehr geehrter Herr Vonberg,
Iris Bleeck, ihre Eltern und ihre ältere Schwester kamen – wie Sie zutreffend formulierten – als Vertriebene nach Rügen. Geschichtlich unzutreffend formuliert und seit der Wiedervereinigung nicht mehr zwingend vorgeschrieben, entspricht es jedoch nicht den Tatsachen, sie als „unfreiwillige Umsiedler“ geschönt darzustellen.
Ostpreußen z.B. war ungefähr so groß wie die heutige Schweiz – nur damit die Geschichte einen Bezug zur Realität gewinnt.
Mordend, plündernd und vergewaltigend stürmten die Rotarmisten vorwärts. Ihren Vormarschweg säumten Leichen und brennende Häuser. Endlose Flüchtlingstrecks befanden sich vom 18.01.1945 bis zum ca. 16.04.1945 auf den vereisten Straßen, weglosen Schneefeldern und dichten Wäldern Ostpreußens. In jedem Moment der Flucht waren die Menschen, die gerade ihrer Heimat beraubt wurden, in Gefahr, von den Rotarmisten einfach überrollt, erschossen, vergewaltigt oder verschleppt zu werden. Wer nicht mehr konnte und den Strapazen erlag, musste zur Seite geschoben und liegengelassen werden. Russische Tiefflieger und Bomberverbände richteten in den Ziviltrecks schweren Schaden an. Das alles bei bis zu 30 Grad minus. Die russischen Maschinen flogen so tief, dass man deutlich den roten Stern sehen konnte. Sie töteten Kinder, Frauen und alte Männer, keine Soldaten – die gab es dort nicht mehr.
Eine internationale Kommission schätzte 5 Millionen Vertreibungsopfer aus Ostpreußen, Schlesien, Pommern, Westpreußen, dem Sudetenland und den deutschen Siedlungsgebieten im Osten und Südosten.
Vertriebene sollten also auch als das bezeichnet werden was sie waren und sind, denn Unrecht in der Geschichte hat oft zu neuem Unrecht geführt, doch früheres Unrecht, auch wenn es noch so groß war, schafft keine rechtliche oder moralische Legitimation für neues Unrecht!
(Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung)
10. Juli 2014 | 16:13
Sehr geehrte Frau Manfraß,
vielen Dank für Ihre kritische Anmerkung zum Beitrag „Vertrieben ins Paradies“. Es war von mir nicht beabsichtigt, mit dem Begriff „unfreiwillige Umsiedler“ die Geschichte geschönt darzustellen. Aus den Geschichtsbüchern und von meinen Eltern und Großeltern, die zum Kriegsende aus Ostpreußen bzw. dem Sudetenland in die sowjetische Besatzungszone gekommen sind, weiß ich um die dramatischen Ereignisse jener Zeit und um das unsagbare Leid, das von deutschem Boden ausgegangen ist.
Ich habe in der Formulierung „unfreiwillige Umsiedler“ lediglich den Gedanken der Autorin aufgegriffen, die da auf Seite 10 schreibt: „Registriert wurden wir als Vertriebene, ab 1947 nannte man uns (ohne, dass sie es wollten, also wiederum unfreiwillig – Anmerkung H.V.) Umsiedler . . . Nach 1948 . . . Alle Evakuierten, Flüchtlinge und Vertriebenen wurden zu Neubürgern. Neubürger klang unverbraucht, unsere Schicksale sollten nicht mehr den Alltag bestimmen…“
Ich bin wie Sie, sehr geehrte Frau Manfraß, und wie die Stiftung der Auffassung, dass Flucht, Vertreibung – aber auch Versöhnung – immer im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik zu sehen ist.
Mit freundlichen Grüßen
Holger Vonberg