Der Kutscher Christian Krüger geht mit seinem Pferd in Rente: Ein Porträt.
Kloster. Ein trüber Tag im November. Nasskalt liegen Schleier über dem „Söten Länneken“. Enten und Kanadagänse teilen sich leise schnatternd das Hafenbecken von Kloster. Nur wenig weichen die Wasservögel zur Seite. Die Fähre kommt. „Sie werden mich schon nicht verpassen“, hatte Christian Krüger am Telefon gesagt und sein Erkennungszeichen verraten: „Hab eine John-Lennon-Brille auf der Nase und bin nicht mehr der Jüngste.“ Er ist der einzige Insulaner, der an diesem Tag an der Kaikante steht und auf seinen Besuch wartet. „Na, was macht deine Lieselotte“, fragt lachend der Bootsmann und legt die Festmacherleine über den Poller. „Alles gut“, erwidert Christian Krüger. Und ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Er kennt diese Art von Scherzen. „Mal sagen sie eben Lieselotte. Dabei heißt sie doch Linda. Und das wissen die Leute.“
Kutscher war er, erzählt er auf dem Weg in Richtung Gerhart-Hauptmann-Haus. „Seine“ Linda hat er vor ein paar Wochen in Rente geschickt. Linda ist 18 Jahre alt und ein Mecklenburger Vollblut. Ein Großvater hatte es für seine Enkelin als Reitpferd gekauft. Als dem Mädchen der erste Freund über den Weg lief, war das Tier nicht mehr von Interesse. So kam Linda nach Hiddensee – als Zugpferd für die Insellogistik. „Es hat Blut, Schweiß und Tränen gekostet, um sie einzufahren“, erinnert sich der 64-Jährige Christian Krüger. „Linda wollte erst nicht.“ Zu zweit musste sie gebändigt werden, denn mit der Kutsche zu warten, wenn die Pakete ausgeliefert wurden, das war zunächst nicht ihre Bestimmung. „Irgendwann aber hat sie das geschnallt.“
Kloster scheint an diesem Morgen noch zu schlafen. Eine Schiffssirene ist gedämpft zu hören, auch der seltsame Gesang der im Dunst vorbei fliegenden Schwäne. In der Ferne – das harte Klappern von Hufeisen. Sie knallen auf Beton. „Der Belag ist nicht gut für die Hufe und die Gelenke“, weiß Christian Krüger. „Asphalt wäre besser, der federt etwas. Ist aber nicht inseltypisch, haben die Verantwortlichen gesagt. Was ist denn inseltypisch, Beton?!“
Wir gehen zum „Wieseneck“. Dort brennt an diesem Morgen schon Licht. In einer Seitenstraße schimpft der drahtige Mann über „sibirische Verhältnisse“, den aufgeweichten Boden, in dem schon einige Inselbesucherinnen mit ihren Stöckelschuhen versunken sind. Gummistiefel sind praktischer. Das weiß er seit seiner Kindheit. Auf Hiddensee wurde Christian Krüger gezeugt.
Seine Mutter stammte aus Berlin, der deutschen Stadt, die nach dem Zweiten Weltkrieg viergeteilt war. Ihr Zuhause befand sich nun im amerikanischen Sektor von Berlin. In Greifswald absolvierte sie ihre Ausbildung zur medizintechnischen Assistentin. Der vierte Nachkriegssommer, die heiße Zeit des Kalten Krieges, hatte längst begonnen. Die Russen sperrten im Juni 1948 alle Straßen- und Eisenbahnverbindungen zwischen den westlichen Besatzungszonen und Westberlin. Monatelang konnten die Menschen in diesen von Franzosen, Briten und Amerikanern besetzten Teilen der einstigen Reichshauptstadt nur über eine Luftbrücke mit Lebensmitteln und Brennstoffen versorgt werden. Niemand sonst kam hinein in die hermetisch abgeriegelte Stadt. So machte die junge Frau im Sommer 48 von Greifswald aus einen Abstecher nach Hiddensee und lernte dort ihren späteren Mann kennen, einen Insulaner. Auf dem Bug bei Dranske hatte er seine Pilotenlizenz gemacht und im Krieg ein Aufklärungsflugzeug gesteuert, das feindliche Funksprüche abfangen sollte. Er kam unversehrt aus dem Krieg zurück. Der bittere Krug der Gefangenschaft war an ihm vorbei gegangen.
Es wurde für beide ein wunderbarer Sommer, Herbst und Winter 1948. Bald schon heiratete der Hiddenseer die Frau aus der großen Stadt. Christian wurde geboren. Als er zwölf Wochen alt war, kehrten jedoch seine Eltern ihm und der Insel den Rücken. Sie gingen nach Berlin in der ungewissen Hoffnung, dort Arbeit zu finden. Sie wussten nur eines: Hiddensee ist ein sicherer Ort für ihr Kind. Christian blieb bei seinen Großeltern. Im Westen Berlins suchten seine Eltern ihr Glück, fanden es und holten ihr Inselkind zu sich. Da war Christian schon zehn Jahre alt und in der dritten Klasse. Für diese Familienzusammenführung hat er heute nur ein Wort: Deportation. Denn von Berlin ging es gleich weiter in die Schweiz, wo der Vater Hoteldirektor wurde.
„Mein Hiddensee.“ Mit der Insel sei er immer fest verwurzelt gewesen. Auf dem Kreidefelsen der dänischen Insel Møn habe er in den Anfangsjahren zehn Tage lang in einem Urlaub gesessen, um die Silhouette seines „Söten Lännekens“ zu erhaschen. „Das hat aber leider nicht geklappt.“ Regelmäßig war er hier später zu Besuch, auch als seine Großeltern nicht mehr lebten. An sie erinnert er sich besonders gern. Sie betrieben eine Pension in Norderende, Vitte. „Die Nachbarn hatten zwei Kühe, die Großeltern immer ein Schwein im Stall. Wir bekamen Milch, auch Fleisch. Und Gemüse und Obst aus dem Garten, Eier von den Hühnern. Und fünf Tage in der Woche hatten wir Fisch auf dem Tisch.“ Auch Roggen wurde noch in seiner Kindheit auf der Insel angebaut und in der alten Mühle von Vitte gemahlen. Die hatte zwar keine Flügel mehr, aber das Mahlwerk funktionierte über Treibriemen und einen betagten Stationärmotor. „Für uns Kinder war die Insel ein großer Abenteuerspielplatz“, denkt der inzwischen grauhaarige Mann zurück. „Ich wurde von den Großeltern regelrecht verzogen“, sagt er. „Als ich mir einen einfachen Roller wünschte, bekam ich einen mit Luftbereifung und zum Spielen anstelle eines kleinen Pferdestalls einen ganzen Bauernhof mit vielen Tieren aus Holz.“
Der Kellner bringt noch eine kleinere Tasse Kaffee. Leise Musik kommt aus dem Lautsprecher. Christian Krüger wendet den Kopf. Musik ist seine Leidenschaft. Sie hat ihn ein Leben lang begleitet. Anders als die Frauen, von denen er sich früher oder später wieder trennte. „Eine Ehe? Die kann man mir nicht zumuten. Aber gute Freundschaften sind immer geblieben. Ich bin kein oberflächlicher Mensch, aber ich hänge mein Herz nicht zu sehr an jemanden. Ich klammere mich an nichts.“ Darum gefalle ihm auch dieser Spruch besonders: „Genieße das Leben beständig, denn du bist länger tot als lebendig.“
Der „Albatros“ von Karat schwebt durch den Raum. Ein Text, der von Freiheit und Sehnsucht, von Würde und Mut erzählt. Das Lied erinnert ihn an die im Jahre 1967 von Peter Green gegründete Blues-Band „Fleetwood Mac“ und deren „Albatros“. Das Instrumental bewegt ihn noch heute. Vielleicht auch wegen seiner Zeit in Frankfurt am Main, um die er das Geheimnis auf immer bewahrt wissen möchte. Er lenkt ab mit der Bemerkung, dass von Fleetwood Mac übrigens der Song „Black Magic Woman“ stamme, der erst durch Santanas Adaption zum Welthit wurde.
Sieben Jahre lang hat Christian Krüger in einer Rockband Bass- und Akustik-Gitarre gespielt. Das vermisst er ein wenig, diese Proben, die Auftritte, das Schlagzeug, die prägnanten Gitarrenriffs. Um seine Nachbarn nicht zu stören, greift er zu Hause oft nach den Kopfhörern, wenn er Musik aus seiner riesigen Plattensammlung auflegt. „Er findet den Weg – auch im Orkan“, singt Karat.
Christian Krüger lacht und wirft einen kurzen Blick zur Uhr. „Ohne Pferd brauchen wir knapp neun Minuten bis zum Hafen.“ Der Kellner kommt. Die einzigen Gäste gehen. Durch den engen Kirchweg schiebt sich schwankend ein Müllfahrzeug. Im Hafen hat sich leichter Raureif auf die einachsigen Handwagen gelegt, die mit den Rädern nach oben liegend nur darauf zu warten scheinen, wieder einmal bewegt zu werden. Raureif liegt auch auf der Bank des Holzbildhauers Jo. Harbort. Christian Krüger wischt mit der Hand über die Sitzfläche und nimmt für einen Moment Platz. Die Fähre legt ab. Jetzt ist wieder Ruhe eingekehrt. Bei ihm. Im Hafen. Und auf der Insel.
P.S.: (In diesem Fall steht PS tatsächlich für Post Scriptum und Pferdestärke): Nichts da mit Dauerwurst. Auch Linda geht es gut. Das Mecklenburger Warmblut ist ein Glückspferd. Warum? Der eine Großvater hat das Reitpferd seiner Enkelin geschenkt. Ihr anderer Opa nahm das pensionierte Zugpferd Linda nach dem Gastspiel auf Hiddensee bei sich auf. Auch deshalb geht es Kutscher Krüger gut. Er weiß das Tier in guten Händen.
Autor: Holger Vonberg
Porträtfotos: Holger Vonberg
Fotos Pferd+Kutscher mit Pferd: Benjamin Weinkauf
Ein Kommentar
27. Februar 2014 | 10:23
Informativ und lesenswert – weiter so!